
Eine Biografie zu lesen, bei der ich genau weiß, dass das Leben tragisch endete, kostet mich immer etwas Überwindung. Gertrud Kolmar starb viel zu früh und hatte viel zu wenig Gelegenheit, zu schreiben. Sie wurde 1943 in Auschwitz ermordet.
Als ich als junge Frau ihre Lyrik für mich entdeckte, wusste ich das zunächst nicht. Ich nahm sie zuerst als sehr freie, sinnliche und manchmal auch wilde Stimme wahr. Ein Gedicht, das ich so häufig las, dass der Gedichtband sich heute von alleine an dieser Stelle aufschlägt, beginnt so:
Ich will die Nacht um mich ziehn als ein warmes Tuch
führt uns Zeilen später weiter zu
Mann, ich träumte dein Blut, ich beiße dich wund,
Kralle mich in dein Haar und sauge an deinem Mund.
und endet nach vielen weiteren beeindruckenden Bildern mit
Und bin eine kleine Speise in einem Becher von Nacht.
Gertrud Kolmar, Verwandlungen
Was war das nur für eine Frau, die so sprachmächtig und sinnlich schreiben konnte? Ich stellte sie mir als einen Menschen mit einem großen Talent zum Tagträumen vor. Als eine, die sich manchmal fremd gefühlt hat, unverstanden. Ich hatte den Eindruck, dass sie wütend war, weil sie als Frau sich ihren Teil der Welt nicht nehmen konnte.
Mit diesen Erinnerungen an Leseeindrücken von vor fast 40 Jahren und mit mehr Wissen über den gewaltsamen Tod stieg ich in das Buch »Alles ist seltsam in der Welt. Gertrud Kolmar – ein Porträt« ein.
Die Sprache war ihr Wildheit und Freiheit, Leben und Welt
Ich finde die biografische Annäherung, die Ingeborg Gleichauf geschrieben und im feministischen Aviva Verlag veröffentlicht hat, sehr gelungen. Sie zeichnet das Leben von Gertrud Kolmar vor allem anhand ihrer Briefe nach. Dabei bewahrt sie einen respektvollen Abstand und über-analysiert Gertrud Kolmars Verhalten und Lebensentscheidungen nicht. Sie lässt ihr ihr Geheimnis.
Viel Raum nimmt dafür das literarische Werk ein. Sehr fein wird herausgearbeitet, was das Besondere an Kolmars Schreiben ist. Das habe ich mit großem Vergnügen gelesen und noch besser verstanden, was mich als junge Frau an den Gedichten fasziniert hat.
Lag ich mit meinem Bild, dass ich mir von der Schriftstellerin gemacht hatte, richtig? Natürlich nicht. Tatsächlich war Gertrud Kolmar eine sehr fürsorgliche, häusliche Frau, die sich bewusst dagegen entschieden hat, Deutschland zu verlassen. Sie blieb bis zum Schluss bei ihrem Vater, der genau wie sie von den Nazis ermordet wurde. Mit dem Talent zum Tagträumen und der Fähigkeit, sich ganze Welten auszudenken und auszudrücken, lag ich sicherlich richtig.
Doch Wut, female Rage? Nein, das passt wohl nicht zu ihr. Das kam von mir. Es war die Kraft ihrer Sprache, die diese Seite in mir angesprochen hat. Genau wie ihr Mut, eigene, sehr weibliche Sprachbilder zu finden. Ihr Talent, so sinnlich zu schreiben, dass ich alle Natureindrücke und Sehnsüchte beim Lesen gespürt habe.
Ihre Gedichte verbanden mich mit meiner Kraft. Dafür bin ich ihr bis heute dankbar. Und jetzt weiß ich, dass sie mir noch eines mitgegeben hat: Wertschätzung für die Abenteuer, die sich nur in unserem Innenleben befinden. Nicht alles muss gelebt werden, aber immer alles erträumt werden.
Bibliographische Angaben:
Alles ist seltsam in der Welt.
Gertrud Kolmar. Ein Porträt
Das ist eine gute Gelegenheit auf diesen biografischen Roman über die jüdische Künstlerin Anita Rée hinzuweisen:
Was für ein beeindruckender Text über Gertrud Kolmar! Ich finde es besonders spannend, wie Ingeborg Gleichauf sowohl das Leben als auch das literarische Werk so fein herausarbeitet, ohne Kolmars Geheimnis zu überanalysieren. Die Passage, die du zitierst, zeigt eindrucksvoll, wie kraftvoll und sinnlich ihre Sprache ist – da spürt man fast selbst die Intensität und Freiheit in ihren Bildern. Mich fasziniert, wie Literatur uns über Zeit und Schicksal hinweg berühren kann. Gerade beim eigenen Schreiben merkt man, wie inspirierend es ist, solche Stimmen zu entdecken, die Mut machen, eigene Bilder und Gefühle auszudrücken. Ein wunderschönes Beispiel dafür, wie Gedichte und Biografien miteinander verschmelzen können, um das Leben und die Innenwelt einer Künstlerin nachvollziehbar zu machen.