Wandern bei Nacht. Was wir in der Dunkelheit erleben können

Wandern bei Nacht. Poetisches Sachbuch von John Lewis-Stempel. Ich halte das Buch bei Nacht aus dem Fenster in Richtung Garten.

Das Leuchten schneeweiß blühender Obstbäume in der Nacht, das unverschämt laute Schmatzen eines Igels: Nachts verändert sich jeder Garten. Doch ich erlebe das meist nur vom Fenster. Ganz anders der Autor John Lewis-Stempel. Er nutzt Anfälle von Schlaflosigkeit, zieht nachts mit seinem Hund los und lässt uns in „Wandern bei Nacht. Was wir in der Dunkelheit erleben können“ mit nahezu poetischen Miniaturen daran teilhaben.

Mehr als einmal vergaß ich, weiter zu lesen, denn sein wunderbarer Schreibstil verführte mich, in eigenen Erinnerungen spazieren gehe. Ich sah wieder die Eule auf einer Plakatwand im Industriegebiet sitzen. Ich hatte sie entdeckt, als ich von einer Kneipentour zurück radelte. Oder die verstörende Geräusche, die mich letzten Sommer geweckt hatten. Es klang, als würde jemand schwer arbeitend den Garten umdekorieren. Tatsächlich lagen am Morgen einige Steine rund um den kleinen Gartenteich nicht mehr an ihrem Platz. Trotzdem dauerte es noch Wochen, bis wir begriffen, dass wir nachts einen Waschbären zu Gast haben.

Zuverlässig führten mich meine Gedankengänge weiter zurück zu den Nachtwanderungen meiner Kindheit. Abends ging es mit den Eltern von der Ferienwohnung zu Fuß durch den Wald in die Gaststätte im nächsten Ort. Auf dem Hinweg haben wir uns schon Wurzeln und andere Stolperfallen eingeprägt. So konnten wir auf dem Rückweg die Taschenlampe meist aus lassen. Doch meine letzte Nachtwanderung habe ich vor ein paar Jahren gemacht, als mich die Nachricht erreichte, dass ein guter Freund gestorben war. Ich hielt es nicht mehr in der Wohnung aus und lief einfach los.

Wenn meine Gedanken diesen Punkt erreicht hatten, griff ich wieder zum Buch. Und stellte fest: Poesie tröstet nicht nur – sie ist auch ein erstaunlich gutes Handwerkszeug, um Naturerlebnisse sehr exakt zu beschreiben.

Doch „Wandern bei Nacht“ bietet mehr als poetische Naturbeschreibungen. Sie sind eine Einflugschneise, hin zu detailgenauen Beobachtungen und naturwissenschaftlichen Erklärungen. Dabei findet kleines und alltägliches genauso seinen Platz wie große und seltene Phänomene.

Während ich nach Westen schaue, in die ungestört stille Nacht von Wales, erscheint ein Bogen aus weißem Licht am Himmel und überspannt die Erde. Ich taumele, verspüre Furcht, als wäre ich für einen allmächtigen Offenbarungsmoment auserkoren worden … Endlich setzt prosaische Physik ein: ich sehe einen Regenbogen bei Nacht. Einen Mondbogen.

John Lewis-Stempel, Wandern bei Nacht – S. 32

Jetzt könnte man selbstverständlich sagen, John Lewis-Stempel hat gut schreiben. Er lebt in Wales inmitten von Feldern, Weiden und kleinen Wäldern. Die Natur beginnt quasi auf seinem Grundstück. Doch Eule und Fledermaus, Igel und Waschbär, Zikaden und der Duft des blühenden Geißblatts – all das kann ich auch hier in meinem Vorort am Rande der Großstadt erleben.

Nur in einem hat John Lewis-Stempel einen Standortvorteil, den er reichlich ausnutzt: Sternenlicht. Er lebt weit genug entfernt von der Lichtverschmutzung der Städte.

Wir haben die Nacht verbannt, schon vor langer Zeit. Es gibt Stadtmenschen, die noch nie die Sterne gesehen haben, die das tröstliche Gefühl nicht kennen, von den weichen Schwingen der Nacht umfangen zu werden. Es gibt Nächte von solcher Stille und Schönheit, dass sie wie Balsam für die Seele wirken …

John Lewis-Stempel, Wandern bei Nacht – S. 16

Doch eines werfe ich dem Buch, das nur ein Büchlein ist, wirklich vor: Es ist zu kurz. Ich hätte den Autoren gerne noch länger auf seinen nächtlichen Streifzügen begleitet!


Bibliographische Angaben:

John Lewis-Stempel

Aus dem Englischen von Sofia Blind

Wandern bei Nacht
Was wir in der Dunkelheit erleben können

DUMONT Buchverlag


Gute Gründe, warum DUMONT ein Lieblingsverlag von mir ist: Bücher wie dieses – und wie „Bäume in der Kunst

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