Es scheint, dass die Ankunft des Opal-Schürfers die Welt in dem kleinen englischen Ort in Schieflage bringt. Doch dem ist nicht so.
Es sind die finanziellen Schwierigkeiten der Eltern, die dafür sorgen, dass die Welt des siebenjährigen Helden an den Rändern auszufransen beginnt.
Dort, wo die Welt ausfranst, können seltsame Wesen eindringen. Oberflächlich betrachtet sorgen sie dafür, dass die Menschen bekommen, was sie sich so sehr wünschen. Eine beängstigende Vorstellung, denn diese Wünsche sind von Gier geprägt.
Der Held aus „Der Ozean am Ende der Straße“ möchte eigentlich nur, dass seine kleine Welt in Ordnung ist und dass Erwachsene einfach nur große Menschen sind, denen man vertrauen kann. Als einziger erkennt er die Gefahr.
Wie gut, dass gerade hier in diesem kleinen Ort schon immer die Hempstock-Frauen wohnen und ihren Ozean am Ende der Straße pflegen.
Doch am Ende wird unser Held trotz aller Opfer mit einem Loch im Herzen zurückbleiben.
Wie kannst Du in dieser Welt glücklich sein? Du hast ein Loch in deinem Herzen. Ein Portal in ein Land jenseits der dir vertrauten Welt. Sie werden dich rufen, während du älter wirst. Du wirst sie nie vergessen können und du wirst immer nach etwas suchen, das du nicht haben kannst, etwas, was du dir nicht einmal richtig vorstellen kannst. S. 185
Der Ozean am Ende der Straße – ein Roman über das Erwachsen-Sein
Erwachsen zu werden ist in Neil Gaimans „Der Ozean am Ende der Straße“ nichts erstrebenswertes. Gier und Geld bedrohen das Gleichgewicht der Welt und nur das Vertrauen der Kinder, das die Welt ein guter Ort ist, und das uralte Wissen der Hempstock-Frauen können diese Bedrohung aufhalten. Doch auf mich wirkt der gut geschriebene Roman an diesem Punkt zu eindimensional.
Der Held wird sein siebtes Lebensjahr überleben, er wird älter werden und er wird vergessen. Er wird Zeit seines Lebens ein Suchender bleiben und sich dem Loch in seinem Herzen widersetzen. Glücklich wirkt er dabei nicht, was nur daran liegen kann, dass er diesen tröstenden Absatz im Roman vor lauter Abenteuer selbst nicht mitbekommen hat:
Ich erzähle dir jetzt was Wichtiges. Erwachsene sehen im Innern auch nicht wie Erwachsene aus. Äußerlich sind sie groß und gedankenlos, und sie wissen immer, was sie tun. Im Innern sehen sie allerdings aus wie früher. … In Wirklichkeit gibt es gar keine Erwachsenen. Nicht einen auf der ganzen weiten Welt. S. 150
Verständlich, dass gerade dieser Abschnitt in den Artikeln und Rezensionen am häufigsten zitiert wurde.
Und dann kam die Marketing-Abteilung …
„Weise, wundersam und hochpoetisch“ – wo ich einen gut geschriebenen Roman sehe, der zielsicher die Grenzen der Fantasy erweitert, sieht die Marketing-Abteilung des Verlags gleich ein literarisches Meisterwerk.
„Ein poetisches Juwel, wie man es nicht oft zu lesen bekommt.“ wird Daniel Kehlmann auf dem Cover zitiert. Immerhin hat der Verlag auf drei Ausrufezeichen hinter dem Zitat verzichtet. Ich vermute, es ist ihnen schwer gefallen.
Daher mein Grußwort an die Marketing-Abteilung: Nur, weil ein Roman, der sich in der Nähe des Fantasy-Genres bewegt, nicht nur eine zweite Sinn-Ebene, sonder sogar eine dritte Ebene aufweist, handelt es sich nicht gleich um ein poetisches Meisterwerk.
Es genügt vollkommen, dass das Buch gut ist und das ist es!
Weitere Angaben zum Roman:
Neil Gaiman
Übersetzt von Hannes Riffel
Der Ozean am Ende der Straße
Eichborn Verlag
ISBN 978-3-8479-0579-0
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Ich liebe Neil Gaiman – warum habe ich dieses Buch eigentlich noch nicht gelesen?! Ich finde, seine Bücher haben oft mehrere Sinn-Ebenen, und das Thema Erwachsenwerden hat er ja schon im „Graveyard Book“ angesprochen, und das hat mich sehr berührt. 🙂
Sehr schöne Rezi, jetzt will ich das Buch erst recht lesen!
Hallo! Ich fand das Buch auch klasse – ich finde auch die Sprache dieser Geschichte sehr schön. Aber obwohl Neil Gaiman einige wirklich berührende Formulierungen benutzt, habe ich mich über die Kommentare auf dem Cover amüsiert! Dem Gruß an die „Marketing-Abteilung“ schließe ich mich mit einem Augenzwinkern an. Vielleicht haben die Schreiber in derselben das Buch nicht wirklich gelesen?? Und Daniel Kehlmann die zu benutzenden Formulierungen vorgegeben? 😉
Ich frage mich ja auch, ob sich Daniel Kehlmann an diesen Ausspruch erinnern kann 😉
Liebe Dagmar,
Deine Kritik an der Marketingstrategie finde ich berechtigt, dieses superlativlastige Marktgeschrei ist in diesem Falle ebenso substanzlos wie „Kehlmännchens“ Empfehlungssatz.
Mir hat „Der Ozean am Ende der Straße“ gut gefallen, aber „Das Graveyard Buch“ hat mir besser gefallen. Übrigens spielt im „Graveyard Buch“ eine Liza Hempstock auch eine hexenzauberhafte Rolle – vielleicht ist sie eine Ahnin von Lettie Hempstock aus dem Ozean… 😉
Darf ich dich zu meiner Rezension auf mein Buchbesprechungs-Blog einladen?
https://leselebenszeichen.wordpress.com/2015/01/14/der-ozean-am-ende-
der-strase/
Bibliophile Grüße
Ulrike von Leselebenszeichen
Graveyard haben mir in den Zusammenhang einige Menschen ans Herz gelegt. Doch ich konnte mich mit dem Buch nicht anfreunden. Das geht mir aber immer so, wenn Neil Gaiman Kinderbücher schreibt. Vielleicht bekomme ich auch irgendwann heraus, warum das so ist.