Öffentliche Bücherschränke: Buchparadies oder Altpapier-Sammelstelle?

Sie dienen der Demokratisierung des Lesens und versprechen kostenlosen Lesestoff für alle. Doch öffentliche Bücherschränke haben ihre Tücken: Altpapier stapelt sich, manche Bestseller altern schlecht und ohne soziale Kontrolle und Ehrenamt geht gar nichts.

Warum eine der schönsten Idee der Buchwelt regelmäßig an der Realität scheitert – und trotzdem funktioniert: Mein ehrlicher Blick hinter die Kulissen des Büchertauschs plus Tipps, was es braucht, damit ein öffentlicher Bücherschrank ein lebendiger Ort des Austauschs wird!

Size matters

Alte Telefonzelle in der Pfalz, die in einen öffentlichen Bücherschrank verwandelt wurde

Die besten Bücherschränke sind entweder sehr klein (Modell My little library, diese überdimensionierten Vogelhäuschen im eigenen Vorgarten) – dann ist wirklich jedes Buch handverlesen, so dass ein kuratiertes Sortiment entsteht. Oder sie sind so groß, dass sie eine solche Auswahl bieten, dass der typische Bodensatz an Büchern, die niemand mitnimmt, nicht ins Gewicht fällt.

Eine Zeitlang wurden ausgediente Telefonzellen in öffentliche Bücherschränke verwandelt. Diese haben jedoch zu wenig Regalfläche, so dass der Kipppunkt schneller erreicht wird. Zudem werden auf dem Fußboden gerne Umzugskisten mit Büchern abgestellt, was die Nutzung erschwert.

Kipppunkte – was selbst das stärkste Buchtauschregal umhaut

Wie jedes lebendige System hat auch ein öffentlicher Bücherschrank einen Punkt, an dem alles kippt. Dann schaut man nur kurz auf die Auswahl, denkt sich »Davon will ich nichts lesen« und geht weiter.
Wenn niemand mehr Bücher aus dem Schrank mitnimmt, hilft nur eines: gründlich ausmisten. Zuerst einfach alles wegwerfen, was vergilbt, verschmutzt, zerfetzt ist. Dann Doubletten entfernen. Mehr als drei Bücher von Emma Bombeck und Ephraim Kishon, Konsalik und Simmel verträgt kein Bücherschrank. Mein Eindruck ist, dass sich auch John Grisham bald in diese Reihe einfügen wird – was mich zum nächsten Punkt führt:

Manche Bestseller altern schlecht

Als (Ex)Buchhändlerin ist mein Blick auf das Sortiment eines Bücherschranks ein ganz eigener. Bei vielen Titeln kann ich mich gut erinnern, wann und warum ich sie selbst verkauft habe – und weiß genau, weshalb sie heute einfach nicht mehr relevant sind.

Bestseller haben im Bücherschrank noch ein weiteres Problem: zu viele Leser*innen kennen sie schon. Die Verweildauer alter Top-Titel wie »Das Duschungelkind« oder »Nicht ohne meine Tochter« ist daher hoch. Neuere Spiegel-Bestseller wie Lucinda Riley hingegen werden sofort mitgenommen.

Ist das Altpapier und kann weg?

Es ehrt Menschen, wenn sie keine Bücher in den Müll werfen können. Ehrlich! Ich kann verstehen, dass jemand Opas gesammelte Jagdliteratur nicht in die Mülltonne tun möchte. Dann ist der Bücherschrank eine gute Wahl.
Aber das ist auch der Grund, warum die Idee der Bücherschränke nur mit ehrenamtlichen Helfer*innen funktioniert. Sie machen das, was sich die Buchspender*innen nicht trauen. Sie misten aus. Ich weiß gar nicht, wie viele Readers Digest Auswahlbücher ich im Laufe der letzten Jahre in die Altpapiertonne geworfen haben, weil sie nach Wochen immer noch dort standen – und wie viele Simmels, Konsaliks und Angéliques gleich dazu.

Menschen, die Bücher lieben

Ohne sie kann kein Bücherschrank leben! Damit meine ich nicht nur die helfenden Hände der Ehrenamtlichen. Um das System des Büchertauschs am Laufen zu halten, braucht es auch Buchliebhaber*innen, die ganz bewusst gute, gerade ausgelesene Bücher einstellen. Oder vielleicht sogar mal ein Herzensbuch dafür kaufen, damit noch mehr Menschen es entdecken können.

So jemanden habe ich wahrscheinlich Alan Bennetts »Die souveräne Leserin« in der wunderschönen Leinenausgabe zu verdanken. Dieser Blog-Beitrag ist mein Weg, danke zu sagen!

Form follows function

Ist das Design oder kann das weg? Öffentlicher Bücherschrank mit schräg angeordneten Regalfächern

Einfach ein Brett, auf dem Bücher Rücken an Rücken stehen – und das in einer Höhe, in der man die Buchtitel ohne Verrenkungen lesen kann: Ein Bücherregal hat aus gutem Grund eine recht langweilige, gleich bleibende Form.

Der Bücherschrank in meinem Vorort wurde leider von Designern entworfen, die das nicht wussten. Die schräge Anordnung der Regalbretter fordert das räumliche Vorstellungsvermögen. Welches Buchformat passt am besten in welches Fach? Wie stelle ich ein Buch hinein, so dass man den Rücken gut lesen kann? Offensichtlich bin nicht nur ich überfordert. Die meisten Bücher zeigen nur den Schnitt. Wer wissen will, welche Schätze in diesem Büchertauschschrank stehen, muss sie einzeln in die Hand nehmen. Das machen nicht alle, so dass der Kipppunkt schneller erreicht wird.

Eins rein, eins raus?

In der romantischen Vorstellung von Büchermenschen stellt man das gerade ausgelesene Buch in den öffentlichen Bücherschrank und hofft, dass man gleich erlebt, wie sich ein anderer Mensch genau dieses Buch heraus sucht.
Tatsächlich verläuft die Befüllung eher in Wellen. Das Kind wechselt die Schule, die alten Schulbücher wechseln in den Tauschschrank (das ist übrigens eine schlechte Idee, da sie meist veraltet sind). Der Umzug steht an, man versucht Ballast abzuwerfen. Die Oma zieht in ein Seniorenwohnheim und kann nur ihre Lieblingsbücher mitnehmen. In allen Fällen soll der Bücherschrank nicht einzelne Exemplare, sondern eine sehr große Menge aufnehmen. Was nicht passt, wird passend gemacht. Es bildet sich eine zweite und dritte Reihe von Büchern, die für lange Zeit kein Tageslicht mehr sehen werden. Damit geht es ihnen besser als denen, die in der Kiste bleiben, die draußen neben dem Bücherschrank steht und sich vor Regen fürchten.

Soziale Kontrolle hilft

Im optimalen Fall steht ein Tauschregal an einem belebten Ort. Nicht nur, damit mehr Menschen ihn entdecken können. Sondern auch, damit mehr Menschen auf ihn aufpassen können. Die zwei besten Bücherschränke, die ich kenne, stehen am Eingang eines Rathauses und im Vorraum einer Bank.

Was ich nie wieder in einem öffentlichen Bücherschrank finden möchte

  • – Bibeln aus Hotelzimmern
  • – Lehrbuch des Steuerrechts in 3 Bänden, erschienen 1982
  • – Handbücher zu Windows 2000 und FoxPro
  • – Das halb ausgefüllte Englisch-Workbook der 6. Klasse und zwanzig Jahre alte Schulwörterbücher
  • – Gratis-Kochbücher, die es zum Kauf einer Mikrowelle oder eines Römertopfs dazu gab
  • – Thematisch schlecht gealterte Unterhaltungsliteratur der 60er und 70er Jahre
  • – Romane, die in einer Kanne schwarzen Tees ertränkt wurden
  • – Alles, was zerrissen, verschmutzt und unvollständig ist

Ein öffentlicher Bücherschrank ist auch nicht der richtige Ort, um immer und immer wieder christliche Missionarsliteratur in zehn Exemplaren einzustellen. Keines dieser Beispiele ist erfunden!

Lieblings-Bücherschränke

  • Mein liebster Bücherschrank befindet sich in Schefflenz, einer kleinen Odenwald-Gemeinde, im Vorraum der Sparkasse. Aber ich bin sicherlich nicht objektiv, da ich ihn seit Eröffnung mit bestücke und auch mit entrümpel.
  • – In Neuostheim, einem gutbürgerlichen Vorort von Mannheim, steht ein Bücherschrank, der mir schon mehrfach durch eine exquisite Buchauswahl aufgefallen ist.
  • – Den gepflegten öffentlichen Bücherschrank in Ilvesheim vor dem Rathaus schätze ich ebenfalls für sein Sortiment. Er überrascht mich immer wieder mit einer guten Auswahl an Sachbüchern und Ratgebern.
  • – Ein ganz besonderes Projekt ist der Bücherschrank der Lektorin Daniela Dreuth. Sie hat vor über 10 Jahren ihre Garage »geopfert« um den Kindern und Jugendlichen ihres Dorfes einen niedrigschwelligen Zugang zu Büchern zu ermöglichen. Darüber schreibt sie hier auf LinkedIn
  • – Wo ist der nächste öffentliche Bücherschrank? Auf dem Buchblog Lesestunden findet ihr eine Karte

Der Bücherschrank in meinem Vorort und ich – noch ist es kompliziert

Der öffentliche Bücherschrank in Mannheim-Rheinau und ich

Noch zählt der Bücherschrank hier in Mannheim-Rheinau, meinem Vorort, nicht zu meinen Lieblingen. Nicht nur wegen seines schrägen Regal-Designs. Er hat schon mehrmals den Kipppunkt erreicht, sich jedoch immer wieder aufgerappelt. Es besteht also noch Hoffnung und ich werde ihn weiter füllen.

Deswegen bringe ich jetzt »Die souveräne Leserin« von Alan Bennett dorthin zurück, wo sie hingehört: in den öffentlichen Bücherschrank und damit in die Hände buchliebender Menschen!


Wunderbare Buch-Entdeckungen aus öffentlichen Bücherschränken:

Ein Kommentar

  1. Ein schöner Beitrag, liebe Dagmar.
    Was mich an vielen der Bücherschränke stört, sind weniger die Bücher, sondern mehr die sie abklappernden Menschen, die die Bücher mit Verkaufsapps scannen und mitnehmen, was sie zu Geld machen können. Auch das ist nicht erfunden.

    Ich stelle gerne etwas hinein, suche für neuere Titel meist andere Wege. Schade, aber nur so fühle ich mich wohl dabei.

    Liebe Grüße
    Sandra

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