Selbst denken – eine Anleitung zum Widerstand

Die ersten 50 bis 100 Seiten sind eine brillante Analyse und ein einziger Rant. Wir Leser*innen sind schuld am schlechten Zustand der Welt und an miesen Zukunftsprognosen. Harald Welzer lässt keine Gelegenheit aus, klarzustellen, dass er Menschen wie dich und mich meint. Sich selbst scheint er davon auszunehmen, denn das Wörtchen WIR verwendet er in diesen Passagen nicht. Eine Publikumsbeschimpfung?

Bei mir hatte dieses Stilmittel eine interessante Wirkung: Ungefähr ab Seite 30 begann ich, mehr darauf zu achten, WIE Harald Welzer schreibt, als auf das, was er mir sagen will. Im Sinne des Autors kann dieser Effekt kaum sein.

Knapp 100 Seiten später fällt auf einmal der Satz, den ich am Anfang vermisst habe. Ab da nimmt sich der Autor nicht mehr aus und gibt zu, dass auch er Teil des Problems ist. An meiner distanzierten Haltung zum Buch hat das aber nichts mehr geändert.

Selbst denken, Zukunft gestalten

Aus der Distanz betrachtet würde ich das Buch wie folgt zusammenfassen:

Die Zukunft mit den (Denk)Systemen von gestern, die zu den Problemen von heute geführt haben, gestalten zu wollen, kann nur zu einer Gegenwart Plus führen, zu einer Fortschreibung dessen, was wir schon kennen. Mehr Konsum (Wirtschaft ankurbeln!) und mehr Technik (E-Autos!) schreibt nur die Geschichte der Industrialisierung und des Wirtschaftswunders fort. Das führt dazu, dass wir noch mehr Bodenschätze aus der Erde holen um Dinge zu produzieren, die angeblich unser Leben verbessern, tatsächlich aber die Müllberge erhöhen, was wir wiederum mit weiteren ressourcen-intensiven Lösungen angehen.

Was wir stattdessen brauchen: weniger Konsum, mehr Nachhaltigkeit, mehr eigenverantwortliches Handeln und eine lebendige moralische Phantasie. Selbst denken ist die Voraussetzung dafür.

Während seine Analyse der Jetzt-Situation sehr treffsicher und genau daher kommt, schweift Harald Welzer im zweiten Teil immer wieder ab. Vielleicht will er damit inspirieren? Ich weiß es nicht und hätte mir konkretere Vorschläge gewünscht als irgendwas mit Eigenverantwortung und Sharing.

Doch lieber Kolumnen von Harald Welzer lesen?

Insgesamt lässt mich das Buch mit einem zwiespältigen Gefühl zurück. Das Fazit der Leserin in mir lautet: in Zukunft bevorzuge ich seine Kolumnen. Seinen brillanten Stil und die hervorragende Rhetorik kann ich so besser genießen. Die Kolumnen von Harald Welzer sind schön knackig auf den Punkt geschrieben, ohne Abschweifungen und ohne universitär anmutende Ausflüge in die Kulturgeschichte. Sie geben mir einen Impuls in Form von Veränderungsenergie, mit dem ich in meinem Alltag etwas anfangen kann.

Doch dann gibt es eine zweite Stimme in mir, die sagt: Nur mit Kolumnen verändert sich nichts. Ab und an muss man sich auch mal anstrengen und sich am großen Ganzen abarbeiten …

Selbst denken. Die ersten Schritte sind ganz einfach sagt Harald Welzer: sich endlich wieder ernst nehmen, selbst denken, selbst handeln. Buch-Cover.

Infos zum Buch:

Harald Welzer

Selbst denken
Eine Anleitung zum Widerstand

Fischer Verlag

Mehr über den Inhalt des Buches bei Deutschlandfunk Kultur. Ein offener Brief beim Freitag. Ausführliche Rezension im CulturMag.

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Ein Kommentar

  1. Das Buch gibt viele Denkanstöße, und ich kann es nur empfehlen. „Auf seine eigene Art zu denken ist nicht selbstsüchtig. Wer nicht auf seine eigene Art denkt, denkt überhaupt nicht.“ Oscar Wilde
    Schöne Grüsse aus Osnabrück

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