Hätte man mich vor meiner Fahrt nach Kassel gefragt, welche Art Kunst ich auf der Documenta erwarte, wäre dieses Bild die passende Antwort gewesen: Stahlbarren in Säcken. Kunst, für die man ein Handbuch braucht. Kunst, die ohne den dazugehörigen Diskurs unverständlich bleibt. Kunst, bei der der theoretische Überbau schon vorhanden ist, bevor der erste Pinselstrich, der erste Schlag mit dem Meisel getan ist.
Zum Glück habe ich auf der #documenta14 sehr viel andere Kunst gefunden. Sehr andere. Das hat gut getan.
Liebe Documenta, was erwarte ich eigentlich?
Was erwarte ich von Kunst? Ich möchte einen spontanen Zugang zum Kunstwerk finden. Einfach so, von Kunstwerk zu Mensch. Ein Kunstwerk muss mich berühren, eine Verbindung herstellen. Das kann ein zartes Hallo! sein. Oder ein Kratzen. Ein befremdlicher Ton. Eine Harmonie. Ein Faustschlag. Ein Häh? Ein Brüller. Ein Ich-glaube-wir-kennen-uns. Ein Stolpern. Ein warum-finde-ich-dich-jetzt-erst.
Wenn dieser erste Kontakt zwischen Kunstwerk und mir hergestellt ist, darf die Reise weitergehen. Hintergründe über die Entstehung führen in die Tiefe des Werkes. Neue Ebenen erschließen sich. Das Kunstwerk führt, ich folge.
Erst aus dieser Tiefe heraus kann ein fest verwurzelter Diskurs entstehen, der weiter führt. So funktioniert für mich die Annäherung an Kunst.
Auf der #documenta14 passierte all das. Es war anstrengend. Es war schön. Es war meine erste Documenta.
Atlas Fractured – Theo Eshetu
Die schon fast monströs große Video-Installation von Theo Eshetu ist für mich ein gutes Beispiel für meine Art der Annäherung.
Der Kontakt war sofort da. Die Geschichte hinter dem Kunstwerk fasziniert und führt in die tieferen Schichten des Werks. Die Projektionsfläche ist ein Banner, das ursprünglich über dem Eingang des ethnologischen Museums in Berlin-Dahlem angebracht war. Überlagerungen von Bildern der europäischen Kunst, Masken und Menschen, die so lange Themen der ethnologischen Museen waren, ohne darin als Mensch vorzukommen, führen mich direkt zu der Frage, wie ich als hellhäutige Europäerin mit klassischer Schulbildung Kunst wahrnehme – und was ich alles nicht sehe. (Hier bitte den passenden Diskurs einsetzen – ich kann das nicht.)
Euro-Zentrismus, sichtbar machen von dem, was in unseren Museen nicht vorkommt, ist ein Thema, das mich durch die ganze Documenta begleiten wird.
Crossings – Angela Melitopoulos
Manchmal ist die erste Berührung zwischen einem Kunstwerk und mir auch ein Würgegriff. Ich wünschte, ich hätte mehr als eine knappe halbe Stunde des Films ausgehalten. Wir werden nicht sagen können, wir hätten nichts gewusst – nicht, wenn wir solche Kunst gesehen haben. Mit vier Filmen, die im runden Bau des Gießhaus so angeordnet sind, dass ich mich ständig drehen und wenden musste, macht die Künstlerin die Zusammenhänge sichtbar: Berge von Schwimmwesten auf Lesbos, Gefechte um Kobane an der türkisch-syrischen Grenze, die Angst in den Gesichtern von Flüchtlingskindern, Containerschiffe, Tagebau, der Berge abträgt. Wirtschaft, Gier, Flucht, Zerstörung. Die HNA kann Crossings von Angela Melitopoulus besser erklären als ich.
Migration. Flucht. Das Thema ist auf der Documenta sehr präsent. All die Bildungsbürger, wie ich auch eine bin, pilgern daran vorbei. Da muss was hängen bleiben, ein Erkennen, ein Verstehen, ein Funke … eine Möglichkeit der Veränderung, der Aktion. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es anders ist. Nachrichten kann man ausblenden. Kunst nicht, denn sie nimmt andere Wege.
Nassibs Bäckerei – Mounira Al Solh
Zurück von den großen Zusammenhängen in das Leben der einzelnen Menschen. Brot braucht jeder – insbesondere in schlechten Zeiten. Mounira Al Solh hat die Bäckerei ihres Vaters nachgebaut. Nassibs Bäckerei gibt gerade durch den Mangel an Gestaltung der Geschichte hinter dem Kunstwerk viel Raum.
Im Untergeschoss werden Skizzen ausgestellt, die während Interviews mit Flüchtlingen und Migranten entstanden sind. Schnell dahin geworfen wirken sie und zeigen Charakterköpfe. Der abstrakte, gesichtslose Begriff Flüchtling löst sich auf, die einzelne Person wird sichtbar. Was für eine Vielfalt an Menschen und Lebensgeschichten!
Photo Notes – Hans Eijkelboom
Doch es gibt auch die Kunstwerke auf der Documenta, die nah an dem bleiben, was ich an Kunst „gewohnt“ bin. Wie zum beispiel die Photo Notes von Hans Eijkelboom. Schmerzhaft aber auch seine Bilder: nach dem ersten Lachen droht die Erkenntnis, dass Individualität nur eine Konstruktion ist. Oder wie kann es sonst sein, dass er an einem Tag auf einer beliebigen Straße so viele Menschen ablichten kann, die alle auf die gleiche Art individuell sind? Diese Bilder setzt er auf Tafeln, 12 Menschen mit gelben Jacken. 15 Frauen im bauchnabelfreien Top. 12 Rentner in beigen Jacken. 15 Männer mit T-Shirt-Sprüchen, die bis eben noch originell waren.
Und ab und an ein schönes Bild
Und ab und an gibt es auch ein Bild, das ich einfach nur als schön empfinde. So wie dieses
oder dieses (Instagram-Schnipsel aus einer Video-Installation: Letter 5 von Amar Kanwar)
- Hintergrundwissen zur Documenta findet Ihr in diesem Buch: Schneewittchen und der kopflose Kurator. Lohnt sich auch ohne Documenta-Besuch.
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