Anscheinend hat Heinrich Böll einmal etwas über das Ruhrgebiet geschrieben, das für viel Wirbel sorgte. Sein Einleitungstext zum Bildband „Im Ruhrgebiet“, den er zusammen mit dem Fotografen Chargesheimer 1958 veröffentlichte, beginnt mit den Worten: „Das Ruhrgebiet ist noch nicht entdeckt worden.“
Was dann folgt, klingt für mich wie der Intellektuelle aus der Großstadt, der die malochende Verwandtschaft besucht und froh ist, wenn er wieder zurück nach Köln darf. Für mich mit meinen Ruhrgebietswurzeln liest sich das amüsant, löst aber nicht mehr als ein Schulterzucken aus. So ganz konnte ich Böll nicht folgen. Wurde das Ruhrgebiet noch nicht entdeckt, weil es ignoriert wurde? Oder weil es sich als Industrielandschaft ständig wandelt? Oder weil man es vor lauter Smog nicht sieht? Oder einfach nur, weil er nie richtig hingeschaut hatte?
Um so mehr war ich verblüfft, dass sowohl der Schriftsteller und Philosoph Wolfram Eilenberger in seinem Buch „Das Ruhrgebiet. Versuch einer Liebeserklärung“ als auch der Historiker und Schriftsteller Per Leo in seinem Buch „Noch nicht mehr. Die Zeit des Ruhrgebiets“ dem Text von Heinrich Böll viel Raum geben. Beide nutzen ihn sozusagen als Förderturm, als Landmarke, an der sie ihren eigenen Blick auf den Pott ausrichten.
Aus den Fördertürmen, einst Agenten der Zerstörung, sind heute ikonische Zeichen geworden, die zuverlässig jeden, aber auch jeden Text über das Ruhrgebiet bebildern.
Per Leo – Noch nicht mehr. S. 89
Für mich ergab das einen interessanten Twist. Zu ihren Blickwinkeln gesellten sich in meinem Lese-Kopfkino zwei weitere: mein eigener und der meines Vaters. Er hat als junger Mann das Ruhrgebiet ganz bewusst verlassen. Jahrzehntelang blieb es für ihn genauso Sehnsuchtsort wie Symbol für ein Leben, das er so nicht führen wollte: zu viel Kleingeist, zu viel Statussymbole und Fassade. Während seine Cousine in Gelsenkirchen sich die dritte neue Schrankwand leistete, stand bei uns immer noch die erste. Während die Omma in Rotthausen sich für den Kirchgang fein machte, stand mein Vater hier in der Badehose im Hof und unterhielt sich mit den Nachbarn.
Ich selbst habe mir das Ruhrgebiet später als Kulturlandschaft wieder neu erobert. Damals, als die Zechen und Stahlwerke schlossen, sollte die Kreativwirtschaft, Theater und Museen den Ruhrpott retten. Ein wichtiger Impuls. Doch nicht nur die stark reduzierten Öffnungszeiten der wirklich hervorragenden Museen zeigen: Kultur alleine kann es nicht richten.
Und so fährt der Ruhrgebietstourist heute stundenlang durch Städte und Wälder, die sich überall auf der Welt befinden könnten, um plötzlich vor einer Stahlruine zu stehen, deren Rostüberzug gerade so sorgfältig konserviert ist, dass sie weder neu aussieht noch ganz verfällt. Er löst eine Eintrittskarte …
Per Leo über die Route Industriekultur. Aus dem Buch „Noch nicht mehr“ S. 90
In beiden Büchern fand ich all das wieder. Per Leo erzählt in „Noch nicht mehr. Die Zeit des Ruhrgebiets“ auf gerade mal 170 Seiten sehr pointiert die Kulturgeschichte einer Region, die eigentlich keine Einheit bildet. Dabei geht er auch auf das „Oral-History-Projekt“ ein, das von Lutz Niethammer 1980 an der Uni Essen initiiert wurde. Für mich als Büchermensch war das und die Kapitel, die darauf folgen, besonders erhellend. Die Bücher zur Ruhrgebiets-Heimatkunde, die in diesem Umfeld später entstanden, hatte ich als Jugendliche gerne gelesen. Jetzt verstehe ich besser, wie sie überhaupt entstehen konnten!
Wolfram Eilenbergers (Geschenk)Buch „Das Ruhrgebiet. Versuch einer Liebeserklärung“ kommt tagebuchartiger, anekdotenhafter daher. Seinen Stil fand ich ganz wundervoll und ich habe sein Büchlein gerne gelesen. Doch wenn ich die Anzahl der Post-ist nach der Lektüre zähle, liegt Per Leo eindeutig vorne – sein Buch wird bei mir noch lange nachhallen!
Bibliographische Angaben:
Per Leo
Noch nicht mehr
Die Zeit des Ruhrgebiets
Tropen Verlag
Wolfram Eilenberger
Das Ruhrgebiet
Versuch einer Liebeserklärung
Tropen Verlag
Heinrich Böll und Chargesheimer
Die Entdeckung des Ruhrgebiets
Ausstellungskatalog Ruhr Museum
Der Bildband im Hintergrund:
Horst Lang
Als der Pott noch kochte. Photographien aus dem Ruhrgebiet
Schirmer & Mosel
Vergriffen