Der Fall schien eindeutig. Hunderte von toten Hummeln unter der Silberlinde konnten nur eines bedeuten: der Baum war schuld!
Als Beweis genügte, dass der Baum nicht einheimisch war. Er kam vom Balkan.
Die Silberlinde ist ein Neophyt, eine ursprünglich nicht einheimische Art, und damit ein Mitglied der gleichen üblen Gang wie der Riesen-Bärenklau.
Offensichtlich war die Silberlinde ein großer Feind der einheimischen Hummeln – so, wie der Riesenbärenklau ein großer Feind der Allergiker ist.
1993 meldete die Stadt Bielefeld, dass alle Silberlinden gefällt wurden.
Die Ameise als Tramp – der Bärenklau als Wegelagerer
Neophyten und Neozoen bereichern unsere direkte Umwelt. So ziemlich jeder, der aus seiner Stadtwohnung ins Grüne schaut, wird mindestens eine ursprünglich nicht einheimische Art sehen: Rosskastanie, Robinie, Forsythie und vielleicht auch einen Halsbandsittich. Hübsch und bereichernd, oder?
Schwierig wird die Lage dann, wenn die Arten invasiv werden und einheimische Arten verdrängen. Vielleicht verjagt der Halsbandsittich andere Höhlenbrüter, die es bei uns eh schon schwer haben, Nistplätze zu finden. Tramp-Ameisen wie die Rote Feuerameise verdrängen nachweislich andere Ameisen.
Wie kommen Neophyten und Neozoen zu uns?
Wir betreiben weltweiten Handel. Die Ballastwassertanks der Schiffe sind voll mit Lebewesen. Wird das Wasser im Zielhafen abgelassen, finden diese Lebewesen eine neue Heimat.
In den Reifenprofilen der LKWs reisen Samen mit. Neophyten verbreiten sich entlang der Grünstreifen der Autobahn, wie überhaupt Brachen und aus dem Gleichgewicht geratene Lebensräume häufig neuen Pflanzen eine Möglichkeit zur Ansiedelung geben.
Ist es da überhaupt möglich, Neophyten und Neozoen die Einreise zu verbieten? Nein, ist es nicht. Sie werden ihren Weg zu uns finden.
Also bleibt uns nur die Resignation? Nein, für Bernhard Kegel ist auch das nicht die richtige Geisteshaltung. Damit eine fremde Art sich erfolgreich ansiedeln kann, müssen viele Faktoren erfüllt sein. Ein Faktor ist die schiere Menge an neuen Individuen, die einreisen müssen, damit eine überlebensfähige Population entstehen kann. Wir können die Einwanderung nur sehr schwer verhindern, aber wir können die Menge klein halten.
Können wir sonst noch etwas tun? Ja, die einheimischen Arten stärken. Und das fängt für mich im eigenen Garten an.
Zum Glück ist Europa keine Insel
Trotz des hochemotionalen Themas und trotz aller Dringlichkeit ist Bernhard Kegel ein bemerkenswert unaufgeregtes Buch gelungen, dass sehr ausgewogen und informativ alle Standpunkte aufzeigt. Dies gelingt ihm, indem er immer wieder den Blick vom deutschen Wald zu den Inseln der Welt schweifen lässt, denn dort ist die Lage wesentlich kritischer als bei uns.
Gerade in Neuseeland lassen sich die Folgen der Ansiedelung fremder Arten gut beobachten. Die Siedler, ihre Haustiere und ihre Nutzpflanzen, denen der Sprung über den Gartenzaun gelungen ist, haben das Aussehen der Insel komplett und für alle Zeiten verändert. Arten, die für das ökologische Gleichgewicht wichtig waren, wurden an den Rand gedrängt. Die Natur der Insel geriet aus dem Lot, denn mit jeder Art, die ausstirbt, wird das ökologische Gleichgewicht und damit die Lebensgrundlage des Menschen instabiler.
War es also richtig, alle Silberlinden in Bielefeld zu fällen? Nein, denn wie wir mittlerweile wissen, starben die Hummeln aus anderen Gründen. Die Silberlinde blüht sehr spät. Zu diesem Zeitpunkt finden die Hummeln kaum noch Nahrung. Daher flogen alle Hummeln der Stadt zu diesen Bäumen; so viele Hummeln, dass nicht alle an den Nektar herankamen. Die, die schon geschwächt waren, starben unter den Silberlinden.
Die Silberlinde war also nicht nur unschuldig, sie war sogar wichtig für den Artenreichtum in der Stadt.
Invasive Arten und biologische Invasionen sind ein hoch komplexes Thema. Bernhard Kegel gelingt es, dieses Thema packend und ausgewogen aufzubereiten. Ich habe schon lange nicht mehr ein Sachbuch so verschlungen und so das Bedürfnis gehabt, jedem davon zu erzählen!
Bernhard Kegel
Die Ameise als Tramp
Von biologischen Invasionen
Dumont Verlag
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