Auf den ersten Blick ist »Rude Girl« eine Biografie. Ganz linear erzählt Birgit Weyhe den Lebensweg der amerikanischen Germanistik-Professorin Priscilla Layne. Doch »Rude Girl« ist keine Roman-Biografie, es ist ein Comic. Und Comics erreichen Stellen, die Romanen verschlossen bleiben. Sie können mit zeichnerischen Mitteln im wahrsten Sinne des Wortes den Blickwinkel wechseln und neue Perspektiven eröffnen. Mit Farbe können sie Bekanntes verfremden und somit Vertrautes hinterfragen. Birgit Weyhe nutzt all diese Stilmittel souverän und bleibt doch einem ganz eigenen Minimalismus treu.
Sehr konzentriert erzählt sie, wie Priscilla Layne als Tochter einer alleinerziehenden Mutter und als Kind karibischer Einwanderer aufwuchs. Wie sie nicht das typische Mädchen sein wollte und welche Freiheit sie in der Musik fand. Warum sie an der Schule wenig wohlwollend als „Oreo“ bezeichnet wurde – außen schwarz, innen weiß. Wie sie in den Indiana Jones Filmen zum ersten Mal Deutsch hörte, diese seltsame Sprache lernen wollte und schließlich mit Kafka die Literatur entdeckte.
Wenn ich das so erzähle, klingt es wie eine nette, empowernde Story über eine Frau, die ihren eigenen Weg geht. Das ist aber nur eine Ebene – da fehlt so viel. So, wie dieser Einschub hier in meinem Blog-Beitrag steht, lässt auch Birgit Weyhe immer am Ende des Kapitels ihre Figur selbst zu Wort kommen. Sie nimmt das bis dahin gezeichnete auseinander, kritisiert und gibt wichtige Hinweise, wie sich ihr Leben in dem Moment wirklich angefühlt hat.
Es ist dieses Zusammenspiel, das »Rude Girl« zu etwas ganz Besonderem macht. Nach und nach erhalten wir Einblick in ein Leben, in dem Race, Gender und Class durchgehend eine Rolle gespielt haben. Nicht mädchenhaft genug für die karibischen Verwandten, nicht schwarz genug für die Black Community, zu arm für das weiße Bildungsbürgertum – was auch immer sie tat, Priscilla saß zwischen den Stühlen. Bei den Skinheads und Punks fand sie eine Heimat, doch vor allem fand sie hier die Kraft, ihren individuellen Lebensentwurf zu entwickeln.
Und noch etwas zeichnet«Rude Girl« aus: Zum allerersten Mal schaffte es ein Comic auf die Nominierungsliste für den Preis der Leipziger Buchmesse.
Die Jury begründet ihre Entscheidung so:
„Neben der starken visuellen Kraft, die RUDE GIRL entwickelt, ist das Besondere die Montage: Auf einer zweiten Erzählebene legt Weyhe der US-Professorin Priscilla Layne immer wieder Versatzstücke ihrer gezeichneten Biographie vor. So entsteht ein produktiver und höchst offener Austausch zweier kooperierender Erzählerinnen: über kulturelle Aneignung, Race und Gender. Ein unverzichtbarer Beitrag zu den Identitätsdebatten unserer Zeit.“
Website Avant Verlag
Auch das ist eine Sichtweise – aber definitiv nicht die einzige, die »Rude Girl« ermöglicht!
Weitere Infos zum Comic:
Birgit Weyhe
Rude Girl