Karte der Wildnis

Mögen wir das Erkunden nicht lassen, und stehen am ende unserer Erkundungen wieder dort, wo wir einst begannen, und erkennen den Ort zum ersten Mal. Zitat von T. S. Eliot.

Mögen wir das Erkunden nicht lassen.

Was ist Wildnis? Für Menschen wie Robert Macfarlane lässt sich diese Frage kaum stellen, ohne den Verlust von Wildnis durch Umweltzerstörung gleich mitzudenken. Er macht sich auf, in seinem Heimatland Großbritannien die letzten wilden Winkel zu erkunden, bevor sie, wie er befürchtet, endgültig verschwunden sind: Gipfel, Moore, Küsten, Inseln, Wälder.

Seine Betrachtung der Natur erschien mir manchmal seltsam distanziert. Zuerst dachte ich, dass es daran liegt, dass seine Leitwissenschaft die Geologie ist. Das Benennen von Gesteinsschichten und Erdzeitaltern ist nicht meine Welt, aber ich bin grundsätzlich neugierig auf andere Blickwinkel. Dann dachte ich, dass das Gefühl von Distanz darin begründet ist, dass er so vieles macht, was ich nicht tue: Auf Bäume klettern, im Freien übernachten, querfeldein ohne Karte wandern. Aber auch daran kann es nicht liegen, da ja der Reiz von Büchern gerade darin liegt, Abenteuer mitzuerleben.

Was war es dann? Es ist der Blickwinkel des Erzählers selbst. Jede seiner Reisen ist wie Anlauf nehmen – einen langen, gründlicher Anlauf, um dann zum Schluss doch mitten hinein in das emotionale Erleben von Natur zu springen. Ich würde mir ja den Anlauf sparen und gleich zum Spüren übergehen – gerne ohne mich vorher durch Regen, Sturm und Schnee den Berg hinauf gequält zu haben. Doch Instant-Naturgenuss scheint nichts für den Erzähler zu sein. Er braucht die Mühe, um den Blickwinkel wechseln zu können. Ich nicht.

Aber es besteht Hoffnung für den armen Kerl. Sowohl seine kleine Tochter als auch sein guter Freund Roger zeigen ihm eine andere Art der Annäherung an Natur und Wildnis.

»Die Wildnis ist überalll« hatte mir Roger einmal geschrieben, »wir müssen einfach nur stehen bleiben und sie uns ansehen.«
Karte der Wildnis – S. 206

Wo gibt es noch echte Wildnis?

Ich selbst kann mir kaum etwas wilderes, kraftstrotzenderes, eigensinnigeres vorstellen als eine Industriebrache, die von Portulak, Brennnesseln, Beifuß, Pappel und Birken erobert wird – da bin ich ganz Kind der Vororte, aufgewachsen mit Blick auf den Industriehafen. Daher freut es mich natürlich, dass Robert Macfarlane sich am Ende seines Buches meinem Blickwinkel annähert:

Das in den Rissen des Gehwegs wuchernde Gras, die frech durch den Straßenasphalt stoßende Wurzel: Auch sie waren Zeichen von Wildnis … In einem Morgen Wald nahe der Stadt gab es ebenso viel zu lernen wie auf dem Gipfel des Ben Hope.
Karte der Wildnis – S. 290

 

Karte der Wildnis - Buch von Robert Macfarlane - CoverAngaben zum Buch:

Robert Macfarlene

Karte der Wildnis

Übersetzt von Andreas Jandl und Frank Sievers

Matthes und Seitz Verlag
Reihe Naturkunden

ISBN: 978-3-95757-101-4

 

2 Kommentare

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