20 Sekunden. Es gibt Zahlen, die gehen mir nicht aus dem Kopf. Seit ich gelesen habe, dass Museumsbesucher im Schnitt nur 20 Sekunden vor einem Kunstwerk verweilen, beobachte ich mich beim Betrachten von Kunst. Wie schaue ich mir Bilder eigentlich an? Was nehme ich wahr, woran bleibt mein Blick hängen? Und wie oft lese ich zuerst das Erklärungsschild? Denke mir dann „Ah, ein typischer Cézanne!“ und gehe weiter zum nächsten Bild?
Wobei ich bei Cézanne nie einfach weitergehe. Deswegen war das der erste Band aus der Serie „Kunst sehen“ den ich mir angeschafft habe. Ich sage es gleich: weitere werden folgen, denn diese Kunstbuch-Reihe ist bemerkenswert.
Was sind die ersten Gedanken, wenn ich ein Bild betrachte? Häufig kreisen sie um Fragen wie „Wer hat es gemalt?“, „Was stellt es dar?“ und „Welcher Stil ist das?“. Ich aktiviere meine Erfahrung mit Kunst und gelange sehr schnell zur finalen Frage: Was will mir das Kunstwerk sagen? Michael Bockemühl schlägt einen anderen Weg vor. Er ermutigt uns, urteilsfrei Bilder zu betrachten.
Im Falle von Cezanne heißt das: Farben, Linien und Flächen anschauen. Wo ist Licht, wo Schatten? Gibt es einen Raum, eine Perspektive? Ist der Pinselstrich überall gleich? Wie wirkt das Bild, wenn ich ein Detail fixiere und wie, wenn ich es als Ganzes betrachte? Dabei das Motiv zu ignorieren fällt zunächst nicht leicht! Immer wieder rutsche ich in Interpretationen ab und kehre dann bewusst zu dem zurück, wofür Kunst gemacht wird. Michael Bockemühls Credo lautet:
„Der Künstler ermöglicht, was der Anschauende verwirklicht“
Michael Böckemühl – Kunst sehen
Die Buchreihe „Kunst sehen“ geht zurück auf eine öffentliche Vorlesungsreihe für Kunststudierende und Laien, die der Professor und Wahrnehmungsforscher Anfang der 1990er Jahre hielt. Sein Bildbetrachtungskonzept funktioniert für jeden, unabhängig von Vorkenntnissen, und ermöglicht damit echte Teilhabe.
Aber er belässt es nicht dabei, den Blick zu befreien und zugleich schulen. Seine Anleitungen zur Bildbetrachtung sind eng verwoben mit biographischen Details zu den Künstlern. Mit einer Fülle von Zitaten zeigt er, wie die Maler sich ihre Herangehensweise erarbeitet haben. Das ist geradezu ein Blick in das Atelier, der mich sehr fasziniert hat.
Kunst betrachten ist lebenslanges Lernen. Auf das Leben folgt das Üben – noch mehr Zeit, die ich in Museen verbringen werde!
Angaben zur Kunstbuch-Reihe direkt beim Verlag:
Bisher erschienen:
Malerei des 19. Jahrhunderts, Monet, Gauguin, van Gogh, Cézanne, Picasso, Kandinsky, Nolde, Mondrian, Klee, Dali, Rothko, Beuys
Weiter Bände in Planung – ich freue mich besonders auf Hans Arp und Henry Moore!
Mehr Infos zu den 20 Sekunden, die wir uns im Schnitt einem Kunstwerk zuwenden.
Weil (historisch bedingt) die Künstlerinnen in dieser Kunstbuch-Reihe zu kurz kommen, empfehle ich Euch noch diese drei Bücher:
- Die Surrealistin. Roman über Leonora Carrington. Und über Max Ernst.
- Anita Rée – biographischer Roman von Karen Grol
- Die Künstlerinnen. Werke aus fünf Jahrhunderten