Manchmal denke ich mir, dass gerade wir Buchhändlerinnen perfekt auf das digitale Zeitalter vorbereitet sind. Schließlich konnten wir schon in Stichwörtern und Schlagwörtern denken, bevor es Begriffe wie Keywords und SEO gab.
Wenn ich dann in dem Buch Disruptive Thinking lese, dass Nichtwissen aushalten eine Schlüsselqualifikation für das Disruptive Zeitalter sei, denke ich mir schon wieder, dass ich als Buchhändlerin darauf perfekt vorbereitet bin.
Wir lernen schon im allerersten Lehrjahr, dass wir nicht auf alle Kundenfragen sofort eine Antwort haben. Mit etwas Ausdauer und Talent haben wir dann schon nur wenige Jahre später Strategien entwickelt, wie wir mit unserem Nichtwissen umgehen und es in Verkaufserfolge umwandeln können.
Doch ich schweife ab und das schon bevor wir zum Buch „Disruptive Thinking. Das Denken, das der Zukunft gewachsen ist“ kommen.
Das kann ja heiter werden.
Disruption. Schon erlebt.
Ich hatte schon seit einiger Zeit kein Wirtschaftssachbuch mehr gelesen. Die letzten Hypes und Buzzwords berührten mich nicht. Industrie 4.0 ist für mich bis heute eine nicht greifbare Worthülse.
Das Buzzword Disruptive Thinking hingegen schlug bei mir in unmittelbarer Nähe auf. Meist im Zusammenhang mit „dieser Digitalisierung“ und „denen eBooks da“. Das ist jedoch viel zu kurz gedacht. Auch die Erweiterung der Diskussion auf schicke Panel-Themen wie „Die Zukunft des Lesens“ beschreibt nur ein Bruchteil von dem, was Bernhard von Mutius als Disruptive Thinking beschreibt. Gut so.
Es geht also um mindestens alles incl. Gesellschaftswandel, einem neuen Denken und der Zukunft der Menschheit. Prima, denn ab hier wurde es für mich spannend.
„Eine disruptive Technologie (englisch to disrupt „unterbrechen“) ist eine Innovation, die eine bestehende Technologie, ein bestehendes Produkt oder eine bestehende Dienstleistung möglicherweise vollständig verdrängt.“ sagt Wikipedia. Disruptives Denken ist demnach das, was vor der Entwicklung geschieht. Oder danach – wenn man zur verdrängten Konkurrenz, zu den aussortierten Mitarbeitern gehört und sich überlegt, wie man aus der Misere wieder heraus kommt.
Disruptive Thinking für alle Jobs. Ok, für fast alle.
Die Analyse des aktuellen Geschehens im ersten Drittel des Buches war für mich erst mal sehr wichtig, um wieder Anschluss zu bekommen. Dabei hat mich fasziniert, wie geschickt der Autor wirklich jeden in seinem beruflichen Umfeld abholt. Verwaltungsfachmann oder Techniker, kreativer Kopf oder Stratege – für jeden gibt es das passende Beispiel, was Disruptive Thinking für ihn bedeuten kann und welche Chancen, aber auch Gefahren enthalten sind. OK – für fast jeden: die kleine Einzelhändlerin kommt auch hier wieder nicht vor. Ihr Filialbetreuer schon eher. Sortimentsanalysen können auch von intelligenten Systemen durchgeführt werden. Was ist dann sein Job? Ist diese Veränderung schon eine Disruption? Oder erst der Beginn? Beantworten kann man das erst im Rückblick.
Am Ende des Buches gibt es dann auch eine Umschreibung des Phänomens, die uns Buchmenschen glücklich machen könnte:
Man muss in der Lage sein, das Cluetrain-Manifest und die Charta der digitalen Grundrechte, Roger Willemsen Schrift Wer wir waren und Michel Serres Büchlein Erfindet euch neu nebeneinander zu lesen, nebeneinander stehen zu lassen, zusammenzudenken – und daraus vielleicht noch etwas Neues, Anderes zu machen, damit wir nicht zerrissen werden. Ohne vorher zu wissen, wie das geht. Das ist Disruptive Thinking.
S. 193
Lasst uns also noch mal kurz in dem Gefühl schwelgen, dass das Buch doch noch ein Leitmedium sein könnte. Bis uns die Disruption dann endgültig einholt.
Zwischenspiel: Design Thinking
Doch was passiert zwischendrin in dem Buch, zwischen der Analyse und den Handlungsempfehlungen für die Zukunft? Da gibt es ein für mich viel zu langes Kapitel über Design Thinking. Danach weiß ich zwar, das diese Technik wohl entscheidend wichtig in Zeiten wie diesen ist, und ich weiß auch, was nötig ist, damit die Technik angewendet werden kann. Aber was diese Design Thinker denn nun eigentlich den ganzen Tag lang tun – das weiß ich immer noch nicht.
Aber das ist nicht das, was mir von der Lektüre im Gedächtnis bleiben wird.
Disruptive Thinking. Machen Menschen den Unterschied?
Schon lange hatte ich kein Wirtschaftsbuch mehr gelesen, dass den Menschen so in den Mittelpunkt gestellt hat wie dieses. Das ist einerseits hoch erfreulich. Andererseits ist es auf Grund des Anlasses schon fast makaber: wenn uns die Technik immer mehr Arbeit und Aufwand abnimmt, ist es allerhöchste Zeit, uns auf das zu besinnen, was das Menschsein ausmacht.
Doch was könnte das sein? Kreativität und die Fähigkeit, Fragen zu stellen, auf die es noch keine Antworten gibt. Unsicherheiten aushalten und gleichzeitig anderen Menschen Sicherheit geben. Das Miteinander weiterentwickeln, in dem wir die Teilhabe stärken. Je stärker wir uns vernetzen desto wichtiger wird der Einzelne mit seinen Talenten und seiner Bereitschaft, sich einzubringen und zu lernen.
In solchen Momenten habe ich das Buch fast staunend zur Seite gelegt. Revolution! Liebe! Utopie! Doch im nächsten Satz ging es dann schon wieder um Firmengewinne und die Weiterentwicklung von Konzernen.
Aber auch das gehört zum Disruptive Thinking: aufhören, in Gegensätzen zu denken.
Na, dann mal los. Ich fühle mich jetzt deutlich besser gerüstet. Meinen Platz in der schönen neuen Welt beginne ich zu erahnen. Ob er mir gefällt? Das werde ich dann erst im Rückblick beantworten.
Angaben zum Buch:
Bernhard von Mutius
Disruptive Thinking
Das Denken, das der Zukunft gewachsen ist
Gabal Verlag
ISBN 978-3-86936-790-3
Anderer Blickwinkel, gleiche Baustelle:
How soon is now? Ohne Krise keine Veränderung von Daniel Pinchbeck.
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