Krakonos ist vor allem ein spannender Fantasy-Roman mit einer rasanten Verfolgungsjagd und einem ungewöhnlichen Setting. Allein das ist schon ein guter Grund, das Buch zu lesen.
Aber Krakonos ist noch so viel mehr. Es ist eine Geschichte über zwei Brüder und darüber, wie es ist, in einer technisierten Welt aufzuwachsen. Es ist ein Buch über die eigenen Wurzeln und über die Kraft, die wir aus der Natur schöpfen können. Natürlich ist Krakonos auch ein Buch über unsere alten Sagen und darüber, welchen Raum die Mythologie heute einnehmen kann.
Für mich ist Krakonos aber vor allem ein Buch über das Verhältnis zwischen Technik und Natur und über die Frage, ob das wirklich ein Gegensatz sein muss.
Ab wann ist Natur wirklich Natur?
Die Brüder Nik und Levi wachsen mit vielen anderen Kindern quasi ohne Eltern in einer hochtechnisierten Firmenzentrale eines Internet-Unternehmens auf. Levi, der jüngere, büchst gerne aus. Sein Bruder findet ihn dann auf der Brache hinter dem Firmengebäude. Dort kann Levi stundenlang eine Spinne oder Schabe beobachten. Google und das Internet nutzt er nur, um mehr über Tiere und Natur zu erfahren.
Bereits dieses Einstiegsszenario lässt sich auf viele Arten deuten. Leser könnten zu dem Schluss kommen, dass der Technikkonzern das letzte Stück Natur aus der Stadt drängt. Meine Deutung lautet jedoch: Ohne den Internetkonzern wäre die Brache keine Wildnis, sondern eine ordentliche Schrebergartensiedlung. Ohne das Wissen aus dem Internet wären die Tiere für Levi nur halb so faszinierend.
Ich kann mir auch auch kaum vorstellen, dass Krakonos sich in der Gestalt eines Raben in einer Kleingartensiedlung wohl fühlen würde. Die kleine Wildnis der aufgegebenen Gärten passt besser zu ihm. Was mich zu der Frage führt, ab wann Natur wirklich Natur ist und keine Parkanlage für das Wohlbefinden der Menschen …
Braucht Natur einen Dolmetscher?
Krakonos ist Rübezahl, ein Wanderer zwischen den Welten, ein Hüter und Beschützer. Er kann jede beliebige Gestalt annehmen und ist ein Vermittler, der die Menschen genauso verstehen kann wie die Tiere, die Berge, den Wald.
Diese mythologische Figur ist auf der Flucht. Ein Sondereinsatzkommando ist ihm auf den Fersen und ein Wissenschaftlerteam hofft bei all dem Chaos auf neue Erkenntnisse. Wieland Freund greift hier die Sehgewohnheiten der Jugendlichen auf und balanciert sehr geschickt mit Motiven des Actionfilms, Fantasy-Elementen und seinen eigenen Ideen. So entsteht ein unglaublich vielschichtiges, ausgewogenes und gleichzeitig rasantes Buch mit einer ganz eigenen Sog-Wirkung.
Aber Krakonos ist auch ein Jugendbuch und stellt immer wieder Fragen: wie würdest Du entscheiden? Welche Werte würdest Du vertreten? Auf welcher Seite würdest Du stehen?
Leider kommt für mich hier die Geschichte ein wenig aus dem Gleichgewicht, fast so als hätte das Lektorat gesagt: wir brauchen jetzt noch ein griffiges Handlungselement, dass dafür sorgt, dass sich das Buch gut als Schullektüre eignet. Es traf das Handy. An sich eine gute Wahl, denn dem Handy kommt eine ähnliche Vermittlerrolle zu wie Rübezahl selbst. Es verbindet die Kinder auf ihrer Flucht mit der Welt der Erwachsenen und mit ihren Freunden, die sie unterstützen. Wieder wird die Rolle der Technik nicht verteufelt, sondern erst einmal hinterfragt. Aber das Handy erscheint als Motiv ein paar Mal zu oft. Spätestens bei der mit Nachdruck vermittelten Erkenntnis, wie anfällig für Missverständnisse die Handy-Kommunikation ist, kommt für mich die Geschichte für einen Moment aus dem Gleichgewicht.
Doch zum Glück lähmt dieser Stolperer nicht das ganze Buch. Schon bei der sehr genialen Wendung, die für einen neuen Sinn in Levis Leben sorgt, hatte ich ihn schon wieder vergessen.
Damit ist auch völlig klar, welchem Buch ich beim diesjährigen Jugendliteraturpreis ganz besonders die Daumen drücken werde!
Angaben zum Buch:
Wieland Freund
Krakonos
Mit Illustrationen von Hans Baltzer
Eine ausführliche Rezension und gleichzeitig eine gute Begründung, warum Krakonos für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurde, findet Ihr bei Kinder- und Jugendmedien.
Ebenfalls nominiert wurde Schreib! Schreib! Schreib!, das ich hier besprochen habe.
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