Punk in der pfälzischen Provinz – natürlich bleibe ich bei meiner Suche nach neuer Lektüre an so einem Buch hängen. Und doch wollte ich „Krach“ von Tijan Sila zunächst nicht lesen. Denn weder mit Punks noch mit Männern, die über ihr Erwachsenwerden schreiben, hatte ich gute (Lese)Erfahrungen gemacht. Ihr Blick auf Frauen brachte mich regelmäßig auf die Palme und was das Macho-Gehabe gewisser Männer in der Punk-Szene angeht … lest einfach die klugen Beiträge von Diana Ringelsiep wie Sexismus geh sterben und verfolgt #punktoo
Dass es das Buch dann doch auf meine Leseliste geschafft hat, habe ich zweierlei zu verdanken. Einmal dem Leuchten in den Augen von Florian Valerius, dem Literarischen Nerd, als er Tijan Sila interviewte. Und Bri vom Blog Feiner reiner Buchstoff, deren Blick auf Bücher von Männern meinem ähneln dürfte, und die „Krach“ begeistert anpries.
Die zwei haben sich nicht geirrt. „Krach“ von Tijan Sila ist großartig und zählt für mich zu den besten Büchern, die ich 2021 gelesen habe.
Ich will doch nur Musik machen – muss ich wirklich erwachsen werden?
Dabei wird sich in der Geschichte entsetzlich viel geprügelt. War das in den Baseballschläger-Jahren in der Pfalz wirklich so? Da ich in friedensbewegten Jahren aufgewachsen bin, weiß ich das nicht. Aber mit den Gewaltszenen hat es Tijan Sila geschafft, mir verständlich zu machen, wie und warum solche Prügeleien entstehen. Diese Mischung aus Grenzen ziehen, Langeweile, für seine Werte einstehen und Lust auf den Adrenalin-Kick … ich konnte es nachvollziehen.
Es steckt zudem viel Heimat in dem Buch. Auch dieses Thema geht Tijan Sila mit einer vielschichtigen Klugheit an. Heimat, das ist die Punkszene und der Pfälzer Dialekt. Das sind die toleranten Eltern und die nervenden Zwillingsmädchen. Das ist die Band und die Freundin, die mit der Musik nichts anfangen kann. Das sind die besetzten Häuser und der gemeinsame Kampf gegen Nazis. Klingt vertraut? Ist es und ist es doch nicht. Denn Gansi und seine Familie sind Kriegsflüchtlinge. Daher muss er für sich ein paar Identitäten mehr aushandeln. Dabei würde er doch viel lieber einfach nur Musik machen.
Mein feministisch bewegtes Herz gewonnen hat Tijan Sila mit seinen Frauenfiguren. Nicht nur mit Ursel, der „Kommandantin“ der Band, und den klebrig-lästigen kleinen Schwestern. Es gibt keine unwichtigen weiblichen Nebenrollen in dem Buch, denn jede Frauenfigur hat Tiefe und einen eigenständigen Charakter. Gansi lernt viel von ihnen – aber nie hatte ich das Gefühl, dass der Autor eine Frauenfigur verwendet, damit seine Hauptfigur endlich im Leben vorankommt.
Überhaupt diese Fülle an Figuren, jede davon exakt ausgearbeitet. Wer aus der Provinz kommt, kennt das: Cool sein ist in der Großstadt leichter, weil man sich dort seine Blase suchen kann. Auf dem Dorf hingegen muss man mit seinen Mitmenschen auskommen. Selbst wenn es sich um Vollprolls handelt, die die falsche Musik hören. Nur mit Nazis kann man nicht auskommen. Auch nicht, wenn es der Bruder der Band-Chefin ist. Doch genau deswegen steckt so unglaublich viel echtes Leben in den 270 Seiten.
Die vielen großen Themen machen mein Vergnügen am Lokalkolorit schon fast zu einem Guilty Pleasure. Aber ich habe mich wirklich über jedes Wiedererkennen einer Pfälzer Kleinstadt und über jede pfälzische Redewendung gefreut. Darüber, dass die Punks für die guten Konzerte nach Straßburg oder Köln fahren und für die mittelguten in meine Heimatstadt Mannheim. Dass der Jungbusch und das Odeon-Kino vorkamen. Und dass die Tatsache, dass eine Band schon mal in der Musikzeitschrift Spex erwähnt wurde, ein ehrfürchtiges Kopfnicken hervor ruft. Auch ich hatte ein Abo.
„Krach“ ist laut und schnell, rotzig und hintersinnig, witzig und bissig. Es wird getragen von der feinen Beobachtungsgabe des Autors und von viel Respekt vor und Liebe zu den Menschen. Ein einzigartiges Lesevergnügen – danke an alle, die es mir so nachdrücklich ans Herz gelegt haben!
Infos zum Buch:
Tijan Sila
Krach
Rezension beim Krachfink und beim Tagesspiegel
Liebe Dagmar, was für eine großartige und schöne Besprechung!! Und wie schön, dass Du das, was ich nicht in Worte fassen konnte, aber schon mitgelesen hatte, hier aussprichst. Krach ist megavielschichtig und wie Du schreibst, hat Tijan Sila seine Figuren mit viel Liebe und Respekt und nie als Mittel zum Zweck gezeichnet. Das mag ich auch sehr gerne an dem Buch. LG und danke für die Verlinkung und das Einlassen auf meine Empfehlung. Bri