Am 2. Januar 2016 bezeichnete ich mich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder als Feministin. Auslöser waren weniger die Ereignisse in der Silvesternacht am Kölner Bahnhof als viel mehr das, was darauf folgte.
Viele Männer (und einige wenige Frauen) fühlten sich auf einmal für den Schutz von Frauen zuständig. Sie erklärten mir, dass ich gefährdet sei und legten auch gleich fest, was ich für meine Sicherheit zu tun hätte: wo ich hingehen darf und wo nicht, was ich anzuziehen habe und was nicht und wie viel Abstand ich von meinen Mitmenschen zu halten habe.
Ganz ehrlich, liebe selbst ernannten Retter: bringt erst mal Euer Leben in Ordnung und dann unterhalte ich mich gerne mit Euch darüber, wer Schutz braucht und vor allem Dingen vor wem und wie.
Wer jungen Frauen erklärt, sie dürfen nicht dieselben Fehler begehen, nicht genauso viel Spaß haben und nicht dieselben Risiken eingehen wie junge Männer – sich betrinken, auf Abenteuer ausziehen, allein verreisen – mag sie kurzfristig vor Raubtieren schützen. Doch langfristig verleiht er diesen Raubtieren Macht.
Laurie Penny, Unsagbare Dinge, S. 159
Meine erste sexuelle Belästigung erlebte ich mit sieben Jahren. Beim Schlittenfahren trat ein Exhibitionist hinter dem Baum hervor. Wir Kinder fanden das seltsam, geradezu skurril und wechselten kurz entschlossen zu einem anderen Hügel. Ein paar Tage später kehrten wir wieder zu unserem Lieblings-Schlittenhügel zurück. Der Exhibitionist war nicht mehr da. Aber ich konnte noch Jahre später exakt die Kiefer benennen, hinter der er gewartet hatte.
Wir haben eine Gesellschaft geschaffen, in der es für jede männliche Person strukturell schwierig und existenziell aufreibend ist, sich nicht wie ein komplettes Arschloch aufzuführen. Das nicht wenige Männer es dennoch zuwege bringen, anständige Menschen zu sein, müssen wir ihnen hoch anrechnen.
Laurie Penny, Unsagbare Dinge, S. 112
Ich glaube nicht, dass es eine einzige Frau auf der Welt gibt, die noch nie sexuelle Übergriffe oder Sexismus erlebt hat. Es gehört zu unserem Alltag dazu. Manches geschieht dreist, direkt und handgreiflich. Anderes subtiler und vieles davon in einer Grauzone, so dass mein erster Gedanke in dieser Situation eher ein „Das kann er doch jetzt nicht ernst meinen?“ ist.
Dieser erste Gedanke führt häufig dazu, dass man den Zeitpunkt des Eingreifens verpasst. So wie bei dem Mann, der sich in der Straßenbahn neben mich setzte, sich an meinem Oberschenkel rieb und an der nächsten Haltestelle wieder verschwand. Bevor ich realisierte, was geschah, war er schon wieder weg.
Weniger Glück hatte der junge Kerl, der vor meinen Augen am Bahnhof an den wartenden Vorortzug pisste und mich gleich danach nach einem Bier fragte. Ich brüllte ihn nieder und blamierte ihn vor seinen Kumpels.
Das ist mein Weg, mit sexuell motivierten Übergriffen umzugehen: laut werden, Dinge klar benennen und mir den Raum nicht nehmen lassen.
Eine Zeit lang habe ich dieses Verhalten als Feminismus bezeichnet, dann eher als Selbstbewusstsein, Respekt und Freiheitsdenken. Vielleicht auch, weil ich dachte, dass unsere Gesellschaft schon weiter sei. Wir hatten doch schon so viel erreicht – ein Label wie Feminismus brauchen wir doch nicht mehr, oder? Schließlich sind wir auf dem besten Weg endlich zu erreichen, dass jeder ein selbstbestimmtes, nicht normiertes Leben führen kann, oder?
Wir sind die, die zu laut lachen und zu viel reden und zu viel wollen und für sich arbeiten und eine neue Welt sehen, die knapp außer Reichweite ist, die am Rand der Sprache darum ringt, ausgesprochen zu werden. Und manchmal, zu später Nachtstunde, nennen wir uns Feministinnen.
Laurie Penny, Unsagbare Dinge, S. 68
Dazu kam, dass der Feminismus sich gewandelt hatte. Aus dem Grundbedürfnis nach Respekt und selbstbestimmtem Leben war ein akademischer Diskurs geworden, der auf eine Art und Weise geführt wurde, dass Menschen außerhalb der Universitäten dem kaum folgen konnten. Jetzt ging es um brillante Analysen von Geschlecht, Gender und Sexualität. Mein ganz normales Leben kam kaum noch darin vor.
Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution.
Und trotzdem das ganz normale Leben.
Im Januar 2016 war der Begriff Feminismus wieder da in meinem ganz normalen Leben. Zeit, nachzulesen, was sich im Diskurs in den letzten Jahren getan hatte.
Auf der Leipziger Buchmesse entdeckte ich „Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution“ von Laurie Penny. Wo sonst? Nur dort kann ich noch solche Buchentdeckungen machen – darüber hatte ich hier gebloggt.
Dieses Buch liest man entweder wie im Rausch auf einen Rutsch durch oder ganz langsam. Bei mir geschah letzteres; ich habe zehn Monate dafür gebraucht. Ganz bewusst habe ich mir diese Zeit für das Buch genommen und sie genossen. Laurie Penny langweilt nie.
Zudem ist sie fest im normalen Leben verwurzelt, auch wenn sie selbst kein normales Leben führt. Den akademischen Diskurs um Geschlecht und Gender kennt sie natürlich nahezu auswendig, setzt ihn aber nicht zwingend als bekannt voraus. Das, was sie bespricht, erklärt sie auch, und Begriffe wie Cis werden bei der ersten Verwendung eingeführt. Dieses Schreiben auf Augenhöhe mit dem Leser machte mir den Wiedereinstieg in feministische Themen leicht.
Laurie Penny ist wütend, betroffen, verletzlich und voller Energie. Sie schreibt nicht über das Leben als Frau, sie steht mittendrin. Was für eine Wohltat! Es ist ihre Energie, die es mir immer wieder ermöglicht, ihre Ansichten und Beobachtungen direkt mit meinem Leben zu verknüpfen – obwohl mein Leben so ganz anders aussieht als ihres.
Unsagbare Dinge, unschreibbare Rezension
Als ich das Buch „Unsagbare Dinge. Sex, Lügen und Revolution“ von Laurie Penny fast ausgelesen hatte, verwendete ich auf Instagram den Hashtag #wieumhimmelswillensollichdasrezensieren.
So entstand dieser Blog-Beitrag – weit entfernt von einer Buch-Rezension, dafür eine persönliche Standortbestimmung, die von diesem Buch mit 283 Seiten zu einem Preis von 16,90 € in 10 Monaten Lesezeit ausgelöst wurde. Unbezahlbar.
Laurie Penny
Unsagbare Dinge
Sex, Lügen und Revolution
Aus dem Englischen von Anne Emmert
Edition Nautilus
ISBN 978-3-89401-817-7
Im Buchhandel erhältlich – zum Beispiel hier bei Schiller Buch.
Richtige Rezensionen bei Faustkultur, im Untergrundblättle und bei CulturMag.
Danke für diesen sehr persönlichen Text. Ich erkenne mich in vielem wieder.
Pingback:Idoru - drei Bücher und noch mehr Brüche - GeschichtenAgentin
Pingback:Radikale Selbstfürsorge - GeschichtenAgentin
Pingback:Vorsicht, Reizwort (aber nicht für mich): Richtig gendern.
Pingback:Rabenvater Staat – Plädoyer für einen Neustart in der Familienpolitik
Pingback:Solidarisch Bücher kaufen: Aber ich kann sie doch nicht alle retten! - GeschichtenAgentin