In dem Stapel der Bücher, die ich gerade lese, befindet sich immer eines, an dem ich besonders lange lese. Manchmal, weil es anstrengend ist. Oder auch, weil jedes Kapitel erst mal verdaut werden muss. Vielleicht auch deswegen, weil es ein Thema behandelt, das nicht immer passt.
Auf Das verborgene Leben des Waldes von David G. Haskell trifft all das nicht zu und doch lese ich schon seit dem letzten Frühsommer darin. Jetzt, im Januar, habe ich immer noch 40 Seiten vor mir. Ich werde sie mir einteilen.
Ich habe keine Eile mit dem Buch – ganz im Gegenteil. Es ist mein momentanes Genussbuch. Ich lese es langsam, ein Kapitel am Abend, höchstens zwei. Dann lege ich es wieder weg, genieße, was ich gerade gelesen habe und freue mich auf das nächste Kapitel, dass ich vielleicht in ein paar Tagen lese werde.
David G. Haskell hatte auch keine Eile. Ein Jahr lang hat er sich Zeit genommen und ein kleines Stück Waldboden genau beobachtet. Gerade mal ein Quadrameter groß ist dieser Kosmos im Kleinen. Ganz genau schaut David G. Haskell hin, beobachtet Pflanzen, Insekten, Pilzsporen und kleinste Veränderungen. Er schaut mit dem Blick des Wissenschaftlers und schreibt mit dem Herz des Poeten.
Die Mücke auf meiner Hand hat offensichtlich eine ergiebige Ader getroffen. In Sekundenschnelle schwillt ihr hellbrauner Unterleib zu einem rubinrot glänzenden Ballon an.
S. 142
Das entspricht seiner Vorstellung von Naturnähe. Nah ran gehen, nicht eingreifen, beobachten. Auf die Beobachtung folgt eine detaillierte wissenschaftlich Beschreibung, die mich Staunen lehrt. Nie hatte ich mir zuvor Gedanken darüber gemacht, was für ein hochkomplexer Organismus eine Stechmücke ist! Damit verändert sich meine Einschätzung von „lästig“ auf „faszinierend“ in fünf Sätzen.
Doch pures Beobachten und Erklären genügt David G. Haskell nicht. Seine kleinen Beobachtungen verortet er im großen Ganzen, im Ökosystem und in der Geschichte des Planeten. So ist jedes Kapitel eine Reise vom Menschen zum Naturdetail und von dort aus über die Wissenschaft zum gesamten Planeten. Dafür genügen ihm nur wenige Seiten: seine Kapitel sind erstaunlich kurz.
Das wiederum macht es mir leichter, mir das Buch in kleine Genusshäppchen einzuteilen. Was für ein Lesevergnügen!
Angaben zum Buch:
David G. Haskell
Übersetzt aus dem Englischen von Christine Ammann
Das verborgene Leben des Waldes
Ein Jahr Naturbeobachtung
Goldmann Verlag
ISBN 978-3-442-22198-1
Ausführliche Rezensionen zum Buch bei Elementares Lesen und bei Literaturkritik.
Zwei Buch-Tipps von mir, die dazu passen:
- Naturwissenschaft und Poesie – das hatte ich zuletzt bei Alles fühlt bewundert. Hier meine Rezension.
- Ähnlich lange gelesen hatte ich zuletzt an Das Mittelmeer. Eine Biographie – aus gutem Grund. Darüber schreibe ich hier.
Vielen Dank fürs Verlinken! Haskells sinnliche Art des Erzählens hat mich auch begeistert! Kein Wunder, dass du die Lektüre so lange wie möglich in die Länge ziehst 🙂
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