Pop und Politik: Was erzählt deutsche Popmusik über unser Land und unsere Geschichte?

Über 400 Seiten, ein üppiges Literaturverzeichnis, an das sich die Playlist anschließt, 11 kleingedruckte Seiten mit Songs: „Keine Macht für Niemand. Pop und Politik in Deutschland“ ist nicht gerade snackable, sondern eine ernste Angelegenheit. Es ist keine Liste von „100 politische Songs aus Deutschland, die du kennen musst“ und auch nicht „Die 20 wichtigsten Bands, die was zu sagen haben“.

Marcus S. Kleiner wählt für sein Buch einen anderen Ansatz. Im ersten Schritt analysiert er die deutsche Geschichte seit 1945, immer 10 Jahre in einem Kapitel. Was war wichtig, was hat das Land geprägt? Wie hat es sich in den einzelnen Jahrzehnten angefühlt, in Deutschland zu leben? Im zweiten Schritt prüft er, ob diese Ereignisse, diese Diskussionen und diese Stimmung in der deutschen Musik aufgegriffen wurde. Dafür analysiert er vor allem die Songtexte.

Aufgelockert wird das durch Interviews, vielen Anekdoten aus seiner eigenen Biografie und vielleicht ein paar zu vielen Fotos, die den Autor mit den Künstlerinnen und Künstlern zeigt. Lasst es mich so sagen: ego-freie Zone ist dieses Buch nicht. Aber das ist Teil des Lesevergnügens und wird durch Selbstreflexion gut abgefedert. So schreibt er über seine eigene Jugend und seine musikalische Sozialisation:

Dieses Wir stellte rückblickend auch nur den Konservativismus und die Spießigkeit des eigenen Andersseins dar, ein Differenzgefühl, das mehr aus- als einschloss und wenig offen für das Erleben von Vielfalt war.

Marcus S. Kleiner, Keine Macht für Niemand. Aus der Einleitung, S. 24

Ziemlich langer Satz für die kurze Aussage: Wir waren typisch ignorante Teenager, oder?

Als ich mich mal eingegrooved hatte, mich an die Kapitellänge und gelegentlich ausufernde Sätze gewöhnt hatte, hatte ich viel Spaß mit dem Buch. Erkenntnisgewinn sowieso. Er arbeitet die Verflechtungen zwischen deutscher Vergangenheit und Gegenwart sehr fein raus. Ich mag seinen kritischen Blick auf den Nationalstolz und den Mythos der Entnazifizierung. Seine Analysen sind klar strukturiert und absolut treffend.

Es kommt nicht überraschend, dass er viele Punk-Songs und Rap-Texte aufgreift. Früher waren Liedermacher*innen die politisch aktivsten Künstler – und gerade aus dem langen Kapitel zu dieser Zeit habe ich viel für mich mitgenommen. Heute sind es die Punks, die Stellung beziehen. Slime dürfte die am häufigsten genannte Band im Buch sein. Rap hätte politisch sein können, wenn nicht ein Großteil in Richtung Gangsta-Rap abgebogen wären. Auch diese Texte werden seziert.

Ab und an verlässt er den wissenschaftlichen Duktus und gönnt er sich einen Seitenhieb auf Bands, die er nicht goutiert.

Schrei nach Liebe von Die Ärzte … wurde zu einem der populärsten Songs gegen rechts in den 1990er Jahren. Im Vergleich zu den in diesem Kapitel behandelten anderen Songs ist er jedoch der banalste.

Kapitel 7, S. 243

Die Band Blumfeld trifft es noch härter. Da bleibt beim lesen schon das Gefühl: kann man so machen, wirklich nötig ist das aber nicht.

Was bleibt mir aber insgesamt von der Lektüre? Mir ist bewusster geworden, wie sehr ich mich durch Musik an Zeitgeschichte erinnere. Aber vor allem: Ich höre wieder anders hin. Wie ist die Stimmung, was wird erzählt, wer spricht? Das sind die Grundfragen, mit denen Marcus S. Kleiner die Lieder analysiert. Eine Herangehensweise, die auch für mein privates Hören gut funktioniert.

Und dieses Zitat bleibt:

Mit Pop ist zwar keine Politik zu machen, eine Revolution schon gar nicht. Politische Popsongs fordern aber zur politischen Stellungnahme heraus oder vermitteln einen emotionalen Schutzraum in harten Zeiten.

Marcus S. Kleiner, Keine Macht für niemand. S. 247

Infos zum Buch:

Marcus S. Kleiner

Keine Macht für Niemand. Pop und Politik in Deutschland
Popmusik als Spiegel der Gesellschaft – Zeitgeschichte, Protestkultur und Popmusik

Reclam Verlag


Auch hier gilt: der Besuch von Festivals kann zum Buchkauf verführen. In diesem Fall lag das an der Lesung von Marcus S. Kleiner auf dem About Pop Festival Stuttgart.


Reclam entwickelt sich gerade zu einer sehr feinen Adresse für Musikbücher. So wie dieses: Voyage, Voyage. Eine Reise durch die französische Popmusik.

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