Es gibt Bücher, die würde ich mir im Leben nicht kaufen. Ganz einfach, weil ich von ihrer Existenz gar nichts weiß. Wer mir und meinen Lese-Vorlieben schon länger folgt, ahnt, wie perplex ich ob dieser Aussage bin. Ich bin eine Kreuz-und-quer-Leserin und ich schätze die Arbeit kleinerer Verlage sehr. Aber das Buch „Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft“ von Lucius Burckhardt, erschienen im Martin Schmitz Verlag, war mir noch nie begegnet.
Zum Glück habe ich einen sehr guten Freund, der dieses Buch in der Karl Krämer Fachbuchhandlung entdeckt hat. Sein erster Gedanke war anscheinend „Spaziergangswissenschaft? Dagmar!“, wozu sicherlich unsere gemeinsamen Instawalks beigetragen haben. So wurde aus dem Buch ein Geburtstagsgeschenk für mich – was für ein glücklicher Zufall!
Kann ich von einem Buch begeistert sein, an dem ich sehr lange gelesen habe, weil es sich zwischendurch zog? Ich kann, denn diese Essays waren nie als Buch geplant. Es ist eine Sammlung von Vorträgen, Interviews und Artikeln. Mit Wiederholungen ist daher zu rechnen. Was aber wiederum passt, denn auch unsere Spaziergänge wiederholen sich.
Doch womit beschäftigt sich ein Promenadologe, also ein Spaziergangswissenschaftler?
Das Fach könnte auch Landschaftsästhetik genannt werden. Wir fragen uns, weshalb Landschaft schön ist und worin diese Schönheit besteht.
Lucius Burckhardt – Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft S. 306
Dabei geht er vom Idealfall aus: Ein Stadtmensch bricht auf, spaziert zum Stadtrand, die Besiedelung wird lichter. Sie erreicht den Waldrand, steigt höher, kommt zu einem Aussichtspunkt. Dann das gleiche wieder zurück. Aus all den Einzelbeobachtungen formt sie in ihrem Kopf eine Landschaft.
Indem sie sich langsam durch die Landschaft bewegt, eröffnen sich Perspektiven und Details, die bei schneller Fortbewegung möglicherweise übersehen werden würden. Der Spaziergang wird somit zu einer Reise, die neue Einsichten und Erkenntnisse ermöglicht.
Die Spaziergangswissenschaft fordert uns dazu auf, unsere Beziehung zur Umwelt zu überdenken und bewusster zu gestalten. Sie erinnert uns daran, dass die Schönheit der Landschaft weniger in ihrer äußeren Erscheinung liegt, sondern mehr in der Art und Weise, wie wir sie betrachten und erleben. Indem die Welt um uns herum erkunden, können wir unsere ästhetische Wahrnehmung schärfen und eine größere Verbundenheit zur Natur entwickeln.
Ab hier stellen wir uns erzählerische Querverknüpfungen vor. Natürlich kommt Beuys drin vor. Aber auch die Instandbesetzer von Zürich, klassische Parks, die Documenta, Stadtplanung und ganz viel „wir Menschen und unser Verhalten“- so wie hier:
In einem Dorf, das schöner werden will, genügt es eben nicht, zwei Bänke auf den Dorfplatz zu stellen und mit Begonien zu umpflanzen; solange das Zeigen von Müßiggang im sozialen Kontext eines Dorfes mit Sanktionen belegt wird, werden sich auf diesen Bänken höchstens Betrunkene aufhalten.
Lucius Burckhardt – Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft S. 208
Lucius Burckhardt starb 2003. Was er wohl zu dem Phänomen der Instawalks gesagt hätte? Auch das sind Spaziergänge im Sinne der Strollology, der Spaziergangswissenschaft. Wir treffen uns, um zu flanieren, und versuchen, unsere Umgebung anders, intensiver wahrzunehmen und in einen neuen Kontext zu setzen. Ich glaube, in der Theorie hätte ihm das gefallen. Was er hingegen zu unserem Medium Instagram gesagt hätte, das hätte ich wirklich gerne gehört!
Bibliographische Angaben:
Lucius Burckhardt
Warum ist Landschaft schön?
Die Spaziergangswissenschaft
Die Promenadologie! Da werden Erinnerungen wach. Von den Herbergsmütter übersetzt für die staatliche Kunsthalle Karlsruhe (sie ruhe sanft im Umbauschlaf) in #wirziehnfallera. Auch da viel Insta & Co. https://wirziehnfallera.tumblr.com/
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